Scrollytelling: Geschichten erzählen im Web

Michael Diesenreither

Storytelling an sich ist so alt wie die Menschheit selbst, denn Geschichten wurden schon immer erzählt. Kulturgeschichtlich betrachtet stellt das Geschichtenerzählen eine uralte, tief in der Gesellschaft verwurzelte Form der Wissensvermittlung dar. Die erzählte Geschichte gilt dabei in mündlichen Kulturen als sicherste Form der Informationsübermittlung. Die Vermittlung eines Themas in Form einer Geschichte gilt als Musterbeispiel informellen Lernens, weil das Wissen implizit vermittelt wird.

Auch im Web erfreut sich (digitales) Storytelling seit Jahren immer größerer Beliebtheit. Digitales Storytelling verbindet das Geschichtenerzählen mit Multimedia, einschließlich Grafiken, Audio, Video und Web-Publishing. Für den Journalismus ergeben sich dadurch neue Möglichkeiten, Sprache zu gestalten, sowie andere Ausdrucksformen und Lesegewohnheiten zu entwickeln bis hin zum Abschied von Text durch die Verwendung bzw. den Einsatz von Design-Kombinationen aus Foto, Ton, Video und Animationen.

Seit Ende 2012 hat sich ein Format namens „Scrollytelling“ entwickelt, das ab 2013 zum Web-Trend wurde, der nach wie vor anhält. Der Begriff Scrollytelling setzt sich aus den Wörtern Storytelling und Scrollen zusammen, es wird also auf einer scrollbaren Webseite eine Geschichte erzählt. Der wesentlichste Vorteil dabei ist die vorgegebene lineare Betrachtungsweise, die zur Umsetzung von Storytelling optimal geeignet ist, da die erzählte Geschichte in der Regel in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden soll. Ein weiterer Vorteil von Scrollytelling-Webseiten ist die volle Kontrolle des Nutzers über die Animation. Je nach Scroll-Geschwindigkeit kann dieser sein eigenes Lesetempo festlegen, was im Gegensatz bei fest animierten Infografiken oder eingebundenen Videos nicht möglich ist. Einige der Scrollytelling-Webseiten arbeiten dabei mit Parallax-Scrolling. Dabei wird durch sich unterschiedlich schnell bewegende Objekte auf der Seite ein dreidimensionaler Effekt erzielt, während der Benutzer mittels Scrollen durch die Seite navigieren kann. Durch den räumlichen Tiefeneindruck, der durch das Parallax-Scrolling entsteht, ist der Benutzer direkter in die Geschichte involviert.

Einsatzgebiete von Scrollytelling sind in die Bereiche Multimedia-Journalismus oder auch Online-Marketing. Die überwiegende Anzahl der Beispiele kommt aus dem Multimedia-Journalismus. „Snow Fall: The Avalanche at Tunnel Creek“ gilt als einer der Vorreiter in diesem Bereich. Diese Geschichte der New York Times, die den Pulitzerpreis gewinnen konnte, erzählt von einer Gruppe von Skifahrern, die im Jahr 2012 eine riskante Ski-Abfahrt absolvierten und dabei verschüttet wurden, infolge dessen drei Skifahrer starben. Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven und mithilfe vieler HTML5-Video-Sequenzen und Bildergalerien, sowie der Einbindung originaler Funksprüche erzählt. Seitdem gibt es immer wieder verschiedene Multimedia-Storytelling-Projekte von Zeitungen und Magazinen wie beispielsweise „The Guardian“, „Süddeutsche Zeitung“, „Neue Zürcher Zeitung“, „National Geographic“ und vielen anderen. Jochen Wegner, Chef-Redakteur von Zeit Online, beschreibt diese Online-Reportagen als „Feiertagslayout“, nachdem Zeit Online mit „100 Jahre Tour de France“ ein eigenes Online-Projekt als Scrollytelling-Webseite erstellt hatte. Mittlerweile haben auch österreichische Medien das Format für sich entdeckt und eigene multimediale Geschichten nach dem Scrollytelling-Prinzip veröffentlicht. Beispiele sind „Unter der Wahrnehmungsgrenze“, ein Feature über Armut in Vorarlberg der „Vorarlberger Nachrichten“, sowie Online-Reportagen der Tageszeitungen „Die Presse“ und „Kurier“. Nicole Kolisch von „Kurier Online“ erwähnt das positive Feedback der Leser auf die Multimedia-Features, allerdings dienen diese hauptsächlich dem Prestige, denn die Online-Reportagen seien vor allem bei Medieninteressierten gut angekommen und nicht unbedingt breitenwirksam gewesen. Für Kolisch sind die Multimediareportagen nicht die Zukunft des Journalismus, sondern allenfalls Zeitungsbeilagen, nur eben in multimedialer Form. DiePresse.com-Chefredakteur Manuel Reinartz sieht nach wie vor die Geschichte und nicht das Format im Vordergrund, Scrollytelling eigne sich besonders für starke und längere Themen.

Zur Umsetzung von Scrollytelling gibt es je nach Einsatzzweck unterschiedliche Werkzeuge. Maximale Flexibilität wird mit JavaScript-Bibliotheken erreicht, wo der Ersteller in der Regel selbst programmieren muss. Ein Beispiel hierfür ist Skrollr. Dies ist eine eigenständige JavaScript-Bibliothek für Desktop-Browser sowie mobile Geräte (Android und iOS-Betriebssystem). Es sind keine JavaScript-Kenntnisse erforderlich, da die Programmierung zum größten Teil nur mittels CSS3 und HTML5 erfolgt. Mit skrollr kann jedes HTML-Element auf der Webseite mit jeder CSS-Eigenschaft abhängig von der aktuellen horizontalen Scrollbar-Position versehen werden. Man erreicht dadurch maximale Flexibilität, allerdings ist der Aufwand auch größer. Darüber hinaus gibt es zahlreiche auf Content-Management-Systemen basierende Vorlagen z.B. für WordPress, sowie eigens für Multimedia-Reportagen entwickelte Werkzeuge wie zum Beispiel „Pageflow“. Diese sind stark in der Umsetzung des Parallax Scrolling-Effekts einschränkend, eignen sich jedoch gut, um schnell und einfach Scrollytelling-Webseiten im gewohnten Format zu entwickeln. „Pageflow“ ist ein Storytelling-Werkzeug des WDR speziell für Scrollytelling-Webseiten. Allerdings kann Pageflow nicht gänzlich kostenlos verwendet werden, da kostenpflichtige Cloud-Dienste zwingend verwendet werden müssen. Es eignet sich außerdem nur für Multimedia-Reportagen, die alle gleich aufgebaut sind. Für den Nutzer könnten solche Reportagen auf die Dauer daher schnell langweilig werden, falls nicht die Geschichte und die eingebetteten Videos dieses Manko wieder wettmachen. Es kommt somit stark auf den Einsatzzweck der Scrollytelling-Webseite an, welches Werkzeug tatsächlich am besten geeignet ist.

Scrollytelling ist quasi die Antithese zu Twitter. Während dort nur kurze Nachrichten verbreitet werden, was in den letzten Jahren auch bei den klassischen Medien und renommierten Journalisten immer populärer wurde, setzt Scrollytelling bewusst auf umfangreiche Geschichten mit in der Regel mehreren tausenden Wörtern Text, ins Detail gehen und ein Thema nicht nur an der Oberfläche behandeln. In einer zunehmend komplexer werdenden Welt wird es immer wichtiger, komplexe Sachverhalte anschaulich und trotzdem nicht nur an der Oberfläche kratzend zu vermitteln. Auch die immer umfangreicheren neuen Möglichkeiten aktueller und zukünftiger Web-Technologien werden dazu beitragen, dass sich diese Art der Wissensvermittlung in Zukunft weiter durchsetzen wird, da Scrollytelling-Projekte schneller umgesetzt werden können und somit auch die Kosten der Entwicklung solcher Projekte wohl langfristig sinken werden.

Quellen:
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